Welche Handlungsfelder bearbeitet werden müssenLebensqualität von Eltern beeinträchtigter Kinder
Das Kindernetzwerk war interessiert, wie die Lebensqualität von Eltern beeinträchtigter Kinder aussieht. Um dies zu erfahren, wurden 33 leitfadengestützte Interviews mit betroffenen Eltern geführt, sowie der Kidscreen-52-Fragebogen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren, eingesetzt. Dabei kam es zu erwarteten, aber auch zu überraschenden Ergebnissen.
Es ist nicht einfach, Lebensqualität zu definieren. Sie lässt sich nicht leicht fassen, ist sie doch ein subjektiv bestimmter Wert. Sie ist ein Ausdruck des eigenen Wohlbefindens, das sich in verschiedenen Dimensio- nen darstellt – physisch, psychisch, emotional und sozial. Diese Aspekte kann man weiter aufspalten, wie dies beispielsweise in dem genannten Fragebogen geschieht. Die Lebensqualität der befragten Eltern ist vielfach beeinträchtigt, zwei Aspekte aber wurden übereinstimmend als die schlimmsten identifiziert – die Unmöglichkeit, spontan und selbstbestimmt handeln zu können und der Wust der zu erledigen- den bürokratischen Arbeit. Diese beiden Faktoren belegten Platz 1 und 2 auf der Lebensqualität-Störfaktoren-Skala. Den letzten Platz nahm in den überwiegenden Fällen das beeinträchtigte Kind selbst ein. Die meisten Eltern arrangieren sich nachder Trauer gut mit dem Kind und seiner Beeinträchtigung/Behinderung.
Bürokratie und Antragswahnsinn
2017 wurde das zweite Bürokratieentlastungsgesetz erlassen, das in Unternehmen bürokratische Hemmnisse mindern und Verfahrensabläufe vereinfachen soll. Niemand scheint aber an die von Krankheit oder Behinderung betroffenen Familien zu denken, die zwar organisiert wie kleine Unternehmen sind – Einkauf, Versorgung, Pflege, Abläufe, Terminfindung, etc. – aber dennoch bei der Entbürokratisierung nicht bedacht werden. Eltern beeinträchtigter Kinder fühlen sich wie Don Quichote
– sie kämpfen auf dem Papier mit Institutionen wie Krankenkassen oder dem MDK und das wegen Heil- und Hilfsmittelbewilligungen, Pflegeeinstufungen oder Kostenübernahmen. Sie bezeichnen den Aufwand als die schlimmste Lebensqualitätsbeeinträchtigung überhaupt. Hier sind unbürokratische, flexible und auf die individuellen Bedürfnisse der Familien eingehende institutionelle Hilfe und Unterstützung gefragt.
Sozialgesetzgebung und deren Umsetzung
Kurt Tucholsky meinte einmal „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint". Dieser Satz trifft vielfach auf die unterschiedlichen Sozialgesetze und deren Handhabung zu. Sozialgesetze dienen der Absicherung der Bevölkerung in unterschiedlichen Not- und Lebenslagen. Sie sollen jedem Bürger helfen, ein angemessenes und teilhabeorientiertes Leben führen zu können. Dennoch können die wenigsten Menschen und oftmals noch weniger die von Behinderung und chronischer Krankheit Betroffenen klar ausmachen, wer in welcher Angelegenheit wann zu Rate zu ziehen ist, wer wie helfen kann und an welche Behörde man sich wann wenden sollte. Betroffene Familien benötigen einen Lotsen, eine für sie und ihren individuellen Fall bereitstehende Person, die sie beraten, „an die Hand" nehmen und sicher durch den Sozialwirrwarr führen kann.
Das Kindernetzwerk setzt sich daher für alle wie auch immer gearteten Lotsenprojekte ein und drängt auf Verstetigung solcher Projekte.
Inklusion und Exklusion
Im Zentrum des Begriffspaares Inklusion und Exklusion steht, laut Martin Kronauer, Professor an der Berliner Fachhochschule für Wirtschaft, gesellschaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe. Familien mit einem beeinträchtigten Kind empfinden sich oft als nicht wahrgenommen oder als benachteiligt – häufig auch aus ihrer Sicht gesellschaftlich und politisch gewollt. Damit leidet die Lebensqualität in besonderem Maße, denn den Familien geht so gesellschaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe verloren. Wenn Kinder nicht als zu Pflegende mitgedacht werden, wenn in der Diskussion um Pflegenotstand und Ärztemangel nicht an beeinträchtigte Kinder und Jugendliche und deren Versorgung gedacht wird, verschwinden betroffene Familien aus dem öffentlichen Bewusstsein. Sie verrichten einen einsamen Dienst an ihren Kindern und leben in der Dunkelheit gesellschaftlicher und politischer Ignoranz.
Hier muss Abhilfe geschaffen werden. Beeinträchtigte Familien leisten einen gesamtgesellschaftlichen Dienst, in dem sie sich für die Schwächsten einsetzen. Das sollten Politik und Gesellschaft unterstützen und honorieren.
Arbeit und Altersarmut
Lebt ein beeinträchtigtes Kind in der Familie, gibt meist ein Elternteil die eigene Berufstätigkeit auf. In der Regel ist dies die Mutter, da Frauen häufig einen geringeren Verdienst als Männer haben. Die Aufgabe der Berufstätigkeit wird von den meisten Müttern als erhebliche Einbuße ihrer Lebensqualität gesehen. Das „Eingesperrt Sein" im Haus, die Einsamkeit mit dem beeinträchtigten Kind und dessen Probleme in den eigenen vier Wänden sowie der Wegfall vieler Sozialkontakte, all das zehrt an den Nerven und löst Bedauern aus. Dennoch gehen die meisten Mütter diesen Weg gern, da sie ihr Kind nicht in fremde Hände geben wollen und aus Liebe auf eigene Bedürfnisse verzichten. Doch leider bringt diese Entscheidung weitere Probleme mit sich. Da die wenigsten Mütter während ihrer beruflichen Abstinenz freiwillig in die Rentenkasse einzahlen (können), werden keine Rentengelder angesammelt. Ist das beeinträchtigte Kind erwachsen genug, außerhalb des Elternhauses leben zu können, sind die Frauen in der Regel so erschöpft und gesundheitlich angegriffen, dass sie nicht mehr vollständig in die Berufstätigkeit zurück gehen können. Dazu haben sie auch den beruflichen Anschluss verpasst. So laufen sie Gefahr, in die Altersarmut zu rutschen.
Hier muss deutlicher als bisher Abhilfe geschaffen werden. Niemand wird bestreiten, dass Erziehung und Pflege Arbeit sind. Lebenslange Arbeit muss sich in einer adäquaten Rente widerspiegeln. Es darf nicht sein, dass sich Lebensqualität in den späten Jahren als Armutsqualität darstellt.
Geschwisterkinder und Familienentlastung
"Wir waren noch nie im Urlaub. Meine Kinder kennen nur Urlaub im Kinderhospiz. Und natürlich in der Schule, Mitschüler kommen aus den Ferien und sagen: ‚Wir waren da und waren da' und meine sagen: ‚Wir waren im Kinderhospiz.' ‚Wie, im Hospiz?' ‚Ja und es war schön.' ‚Schön? Mit sterbenden Kindern? Das soll schön sein?' Und das macht mich eigentlich sehr traurig, weil da natürlich viel Lebensqualität verloren geht, nicht nur für mich, sondern auch für meine Kinder."
Geschwister von beeinträchtigten Kindern haben es oft nicht leicht, in der Familie genügend Aufmerksamkeit für ihre eigenen Belange zu bekommen. Gerade ältere Kinder müssen erst lernen, dass die Aufmerksamkeit der Eltern vielfach auf die Bedürfnisse des beeinträchtigten Kindes gelenkt ist. Den Eltern ist die unglückliche Situation der anderen Kinder bewusst. Sie sind betrübt und manches Mal sogar regelrecht verzweifelt, dass wenig Raum für die Geschwisterkinder bleibt. Dieses Wissen führt zur Minderung der Lebensqualität der Eltern, da sie sich unfähig und oftmals zu ausgelaugt fühlen, mehr Zeit für die anderen Kinder zu finden. Sie erleben Schuldgefühle, ebenso wie manches Mal die Geschwisterkinder selber, die Gefühle der Schuld empfinden, weil sie um die Aufmerksamkeit der Eltern buhlen, obwohl sie verstehen, dass diese sich besonders um das beeinträchtigte Kind kümmern müssen. Familienentlastende Dienste (FED) können hier helfen. Sie, genauso wie familienunterstützende Hilfen (FUD) oder Fachdienste für offene Hilfen werden von Behinderten- oder Wohlfahrtsverbänden wie AWO, Caritas oder Diakonie angeboten. Häufig werden diese Dienste nicht kostendeckend angeboten.
Das Kindernetzwerk setzt sich hier für eine Verbesserung der Finanzierungsmodelle ein und plädiert für einen flächendeckenden Ausbau familienentlastender Dienste und anderer Angebote, die betroffene Familien entlasten können.
Körperliche und seelische Gesundheit
Körperlich beeinträchtigte Kinder benötigen häufig viel Unterstützung seitens ihrer Pflegepersonen. Sie müssen getragen werden, auf die Toilette gesetzt und aus dem Rollstuhl ins Bett und umgekehrt gehoben werden. Sie brauchen externe Körperkraft, weil die interne nicht in ausreichendem Maß vorhanden ist. Die Pflegepersonen, häufig die Eltern, tun ihr Bestes, das aber oft nicht das Beste für den Rücken, die Schultern oder die Gelenke ist. Krankenkassen und andere Institutionen bieten Pflegeanleitungskurse an, doch oft bleibt den Eltern keine Zeit oder es fehlt die psychische Kraft, solche Kurse zu besuchen. Man macht einfach und denkt nicht weiter drüber nach. Nach einer gewissen Zeit, in der Regel etwa nach 15 Jahren, stellen die Eltern körperliche Erschöpfungszustände bei sich fest. Sie beginnen zu kränkeln, bräuchten Ruhe und Erholung, wissen aber nicht, woher sie diese bekommen sollen. Die oftmals sowieso nicht allzu gute Qualität ihres Lebens schwindet weiter. „Was wird, wenn ich einmal nicht mehr kann? Wer sorgt dann für sie, für ihn?" Benennen die Eltern diese Ängste, wird ihnen oftmals geraten, das Kind in ein Heim zu geben. Doch für viele Eltern stellt sich diese Frage nicht. Sie kennen ihr Kind, sie wissen, wie es behandelt und gepflegt werden muss, sie kennen die Notwendigkeit der 1:1 Betreuung. Und dieses Wissen, diese Bedingungen sind in den Heimen nicht gegeben. So wachsen die Sorgen und Ängste und Überforderung und Burn-out nehmen zu.
Das Kindernetzwerk setzt sich für die flächendeckende und finanziell gesicherte Implementierung von Casemanagern, Familiengesundheitspartnern oder Familienhelfern ein.
Diese können gesundheitsschonende Pflegeanleitungen geben, erkennen beginnende körperliche und seelische Überforderung und können diesen durch gezielt gesuchte Unterstützung gegensteuern und individuell angepasste Hilfen finden.
Spontanität und Selbstbestimmung
Menschen mögen es, wenn sie eine selbst gesetzte Absicht verfolgen und diese in die Tat umsetzen können. Menschen planen und das motiviert sie, zu handeln. Werden Taten von außen aufgezwungen, fehlen die Motivation, der Elan und häufig auch die Umsetzung. Eltern von beeinträchtigten Kindern werden durch die gesundheitsbedingten Möglichkeiten des Kindes in ihren Plänen und deren Umsetzung beschränkt. Nichts kann mehr „einfach so" geschehen, jedes spontane Handeln braucht eine lange Vorlauf- und Organisationszeit. Jede persönliche Absicht muss mit den kind- und krankheitsbedingten Gegebenheiten abgestimmt werden. Die Autarkie der Eltern schwindet.
Hier ist jeder Einzelne gefordert, betroffenen Familien zu entlasten, indem sie ihnen schlichtweg Zeit schenken.
Dr. Annette Mund
Bundesvorsitzende von Kindernetzwerk e.V.