„Ausgleich zwischen mir und meinen Bruder“ Leben mit einem betroffenen Geschwisterkind
Chronische Krankheiten oder Behinderungen bei Kindern belasten die ganze Familie, denn die Versorgung des kranken oder behinderten Kindes ist mit einem hohen zeitlichen Aufwand verbunden. Da muss oft das gesunde Geschwisterkind zurückstecken. Wie auf den Eltern lastet der Druck, dass alles zu schaffen, auch auf den Geschwisterkindern. Wie sich das Leben mit einem kranken Geschwisterkind gestaltet, erzählt Matti Schrödel, 18 Jahre, vom Netzwerk Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen e.V. in einem Interview mit dem knw.
Matti, beschreibe einmal deine Familienkonstellation.
Als mein Bruder 13 Jahre alt war, wurde er bei einem Fußballspiel gegen den Kopf getreten. Durch das Trauma wurde seine Hypophyse, eine Hirnanhangsdrüse, beeinträchtigt. Die sich in seinem Fall daraus ergebende Erkrankung nennt sich „Hypophyseninsuffizienz“. Mein Bruder kann nicht mehr genügend Kortisol ausschütten. Dieses Hormon ist dafür da, Stress abzubauen. Seit der Diagnosestellung nimmt mein Bruder daher Hydrocortison-Tabletten und das ist für ihn lebensnotwendig. In besonderen Stress-Situationen und bei nicht ausreichender Hydrocortison-Ausschüttung kann es zu einer sogenannten Addison-Krise kommen: Dabei verschlechtert sich der Allgemeinzustand bis hin zum Schock. Ohne schnelle Hilfe ist das lebensgefährlich.
Weil wir aber nach dem Unfall erst einmal herausfinden mussten, was er überhaupt hatte, ging es in den Jahren nach seinem Unfall natürlich sehr viel um ihn. Das erste Jahr nach dem Unfall konnte und wollte mein Bruder nicht in die Schule gehen. Danach ging er auf eine zweimonatige Kur. Meine Eltern haben in der Zeit versucht, mich gleich zu behandeln, trotzdem stand er im Mittelpunkt. Ich habe zu dieser Zeit mitansehen müssen, wie traurig meine Eltern waren. Ich war in der Zeit, in der mein Bruder mit meiner Mutter auf Kur war, oft allein. Dennoch habe ich mich von meinen Eltern gesehen gefühlt. Das liegt bestimmt daran, dass meine Eltern auch sehr viel Wert auf den Ausgleich zwischen mir und meinem Bruder gelegt haben.
Was ist für Dich als Geschwisterkind belastend?
Meine Eltern engagieren sich in Organisationen und Vereinen, die sich mit der Krankheit meines Bruders befassen. Dadurch fühle ich mich manchmal etwas benachteiligt: Manchmal finde ich es schon blöd, dass mein Bruder oft im Mittelpunkt steht, dass sich viel um ihn dreht. Ich weiß aber, dass er diese Aufmerksamkeit braucht und, wie beschrieben, seine Krankheit ja nicht zu unterschätzen ist. Das zu erkennen, hat bei mir aber auch gedauert: Nach dem Unfall habe ich lange nicht verstanden, wie schwer seine Krankheit ist, weil man sie nicht sah. Ich konnte nicht glauben, dass er wirklich beeinträchtigt ist. Das führte dazu, dass ich nicht auf seine Krankheit geachtet habe und manchmal unnötigen Stress verursacht habe. Nun fühle ich mich schon verantwortlich, auf ihn achtzugeben.
Wie ist Deine Geschwisterbeziehung?
Streit gibt es ja zwischen allen Geschwistern. Da mein Bruder diesen Streit aber nicht immer so gut verkraftet, versuchen wir, ihn so - gut es geht - zu vermeiden. Trotz Krankheit ist die Beziehung nicht anders als die zwischen anderen Geschwistern.
Du bist mit Deiner Mutter in der Selbsthilfe aktiv, warum?
Es fing damit an, die Krankheit besser zu verstehen, um meinem Bruder zu helfen und ihm im Notfall beiseitezustehen. Dafür hat sich meine Mutter schlau gemacht. Auch ich bin in der Selbsthilfe aktiv, um meinem Bruder zu helfen. Wir setzen uns nun für Betroffene mit der gleichen Erkrankung ein. Ich als Geschwisterkind bin weniger in der Selbsthilfe aktiv, da ich mich nicht so beeinträchtigt fühle. Ich konnte meine eigenen Wege ohne die Probleme, die von der Behinderung meines Bruders ausgehen, gehen. Meine Eltern geben auch ihr Bestes, uns beide gleich zu behandeln und mich und meinen Bruder bei unseren Träumen zu unterstützen.
Viele Jugendliche wollen sich nicht mit der Erkrankung auseinandersetzen. Wie ist es bei Euch?
Ich probiere, meinen Bruder bei seiner Behinderung zu unterstützen. Da sich meine Mutter sehr viel mit der Krankheit auseinandergesetzt hat, bekomme ich auch schon Einiges mit und probiere auch, selbst etwas dafür zu tun, dass es meinem Bruder gut geht. Ich habe auch schon einmal eine Ersthilfeschulung mitgemacht, um meinem Bruder im Notfall besser helfen zu können. Sonst habe ich mich genau über seine Krankheit und die Folgen informiert, so dass ich im Notfall weiß, was zu tun ist und wie ich zu reagieren habe.
Welche Hilfen als Geschwisterkind hast Du in Anspruch genommen und wie haben sie geholfen?
Bisherige Angebote für Geschwisterkinder sind nicht so gut auf mich abgestimmt gewesen: Ein Geschwisterkinder-Workshop, den ich mal mitgemacht habe, war gar nicht für mich, sondern für jüngere Geschwister ausgelegt. Und irritiert hat mich, dass manche Geschwister, die auch dort waren, gar nichts über die Krankheit ihrer Geschwister wussten. Mich hat das sehr verwirrt, da die Krankheit bei uns ein großes Thema ist. Um sich besser zu helfen, muss man sich mit der Krankheit auskennen. Erst dann entwickelt man ein Verständnis dafür.
Warum ist Selbsthilfe wichtig?
Ich finde Selbsthilfe wichtig, weil sich verschiedene Gruppen über ihre Situation untereinander austauschen können. Selbsthilfe ist ein guter Weg, mit dem sich Betroffene und betroffene Angehörige untereinander finden und helfen können.
Der Alltag einer betroffenen Familie ist nicht einfach, was hat es dir aber vielleicht auch an positiven Aspekten gebracht?
Eines, was er mich gelehrt hat, ist, stark zu bleiben und dass es immer eine Lösung gibt. Ich habe mir auch etwas mehr Selbständigkeit angeeignet. Ich weiß nicht genau, ob es darauf zurückzuführen ist, aber durch diese Selbständigkeit habe ich auch Träume, die ich erreichen will.
Die Fragen stellte Birte Struntz, Kindernetzwerk 2023