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Lösungsansätze zur Stärkung pflegender Eltern Situation von Familien mit Kindern mit Behinderung und chronischen Erkrankungen

Logo Interessensvertretung und Selbsthilfe pflegender Angehöriger e.V.

Die Interessensvertretung und Selbsthilfe pflegender Angehöriger e.V. hat im Arbeitskreis pflegender Eltern die Handlungsempfehlung „Für uns und unsere Kinder“ komprimiert und weiterentwickelt. Dabei sind die „Lösungsansätze pflegender Eltern“ entstanden, die wir an dieser Stelle teilen möchten:

„Als meine Tochter zur Welt kam, war alles super. Schwangerschaft und Geburt waren unauffällig und meine Tochter hatte in allen Vorsorgeuntersuchungen brilliert. Und trotzdem ist im ersten Lebensjahr ihr Kopf nicht mitgewachsen, so dass uns die Ärzte ein ganzes Jahr lang gesagt haben: Zwischen Abitur und Schwerstbehinderung sei alles drin. Heute, 7 Jahre später, haben wir ein fröhliches Kind, das auf dem Entwicklungsstand eines 1-2- jährigen Kindes ist und ihr und unser Leben lang auf Hilfe angewiesen sein wird. Ein Leben, das geprägt ist von Unsicherheiten und Ängsten um ihr Leben, von endloser Google-Recherche nach geeigneten Therapien und Leistungsansprüchen, von der nicht erfolgreichen Suche nach einer Diagnose trotz umfassendster Gen-Diagnostik, von nicht enden wollenden Therapie- und Arztterminen und ein Leben, das immer auch geprägt ist vom Kampf mit den Behörden um gesetzlich zustehende Hilfsmittel und Leistungsansprüche.“

So wie dieser Familie geht es vielen. Immer wieder berichten Familien von gleichen Problemen und Sorgen.

Neben qualifizierter Beratung von Fachleuten, die eben diese Besonderheiten von Familien im Blick haben, fehlt oft ein wertschätzender Umgang mit diesen Familien seitens der Behörden und Ämter. Für Eltern ist das System der verschiedenen Hilfsleistungen nur sehr schwer zu durch- schauen. Es gibt eine Vielzahl von verschiedenen Leistungsträgern und die Grenzen zwischen ihnen sind teilweise fließend.

Auch müssen Familien die Behinderung ihrer Kinder in oftmals zermürbenden Antragsverfahren immer wieder neu beweisen. Unabhängig davon, ob es sich tatsächlich um eine reversible Erkrankung oder eine dauerhafte Schwerst-Mehrfachbehinderung handelt.

Obwohl von qualifizierten Ärzten*innen rezeptiert, müssen sie auch bei eindeutigem Anspruch oft monatelang um ihnen zustehende Hilfsmittel und Leistungsansprüche kämpfen. Widerspruchsverfahren sind kompliziert, werden von Behörden und Ämtern oft unnötig in die Länge gezogen und sind teilweise ohne anwaltliche Hilfe nicht zu gewinnen. Weil viele Eltern keine Kraft mehr zum Kämpfen haben, verzichten sie am Ende auf Hilfsmittel und Leistungen oder beschaffen diese selbst. Die wichtigen Entwicklungszeitfenster der Kinder schließen sich ungenutzt und oft erfordert es im Nachhinein teure Korrektur-Operationen, die verhindert hätte wer-den können.

Umso schlimmer ist dies, wenn Familien aufgrund der Behinderung oder Erkrankung ihres Kindes in finanzielle Not geraten und in der eigentlichen Phase der wirtschaftlichen Sicherung einer Familie auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Bleibt die Familie in dieser Phase nicht zusammen und scheitert an den Belastungen des Alltags mit Behinderung, droht dem allein- oder getrennt erziehenden Elternteil oft Armut, nicht selten mit Bezug von Bürgergeld. Pflegendes Elternteil zu sein bedeutet, nicht mehr ausreichend in die eigene Altersvorsorge einzahlen zu können. Aufgrund der unbezahlten Pflegetätigkeit können nur Tätigkeiten mit einem geringen Stun- denumfang oder nicht der eigenen Qualifikation entsprechend und daher schlechter bezahlt, geleistet werden. Diese Altersarmut trifft pflegende oder ehemals pflegende Angehörige, deren Kind bereits verstorben ist, mit voller Wucht. Eltern wollen und könnten einer Lohn-Arbeit nachgehen, wenn die Betreuung des Kindes gesichert und die Arbeitsbedingungen pflegesensibel wären.

Ein Kind mit Behinderung oder chronischer Erkrankung bedeutet eine lebenslange Aufgabe, die nicht mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter endet. Dringend benötigte Entlastungsangebote und Kurzzeitpflegeplätze sind rar gesät oder durch hohe Hürden nur schwer zu erreichen. Eltern müs- sen 24/7 die Pflege ihres Kindes sicherstellen. Auch dann, wenn die Kinder durch ihre Behinde- rung herausfordernde Verhaltensweisen zeigen oder z.B. eine intensivpflichtige Erkrankung die ständige, auch nächtliche, Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich macht. Aufgrund des Pflegenotstands müssen auch diese Schichten immer häufiger von den Eltern selbst übernommen werden.

Familien, die derart belastet sind, werden einsam. Freundschaften und Beziehungen zerbrechen oft an diesen Belastungen und ein Parallelsystem, in dem Menschen mit Beeinträchtigungen oft gefangen sind, fördert nicht die Inklusion, sondern die Exklusion aus der Gesellschaft. Familien werden unsichtbar und dadurch von Gesellschaft und Politik nicht ausreichend wahrgenommen. Dies äußert sich bei Gesetzgebungsverfahren und Verteilung der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel.

Wenn pflegende Angehörige im politischen Kontext eine Rolle spielen, so wird in den meisten Fällen auf Seniorenpflege abgestellt. Pflege von Kindern unterscheidet sich jedoch immens von der Pflege der Eltern oder der Partner. Mit der Behinderung eines Kindes ändert sich der Alltag aller Familienmitglieder und dieses komplexe System „Familie“ droht zu kollabieren.

Damit am Ende das Kind mit Behinderung bzw. chronischer Erkrankung so selbstständig wie möglich leben kann und die ganze Familie gestärkt wird, muss auch das gesamte System Familie
unterstützt und gefördert werden. Denn um Inklusion leben zu können, braucht es Kraft und ein Standing.

Es braucht Menschen, die sich ihrer Handlungskompetenz bewusst sind und diese auch einsetzen. Starke Familien sind ein Grundpfeiler für gelingende Inklusion, für ein Sichtbarwerden und ein Umdenken hin zu einer pflegesensiblen Gesellschaft in der Gesellschaft.

Lösungsansätze Ressortübergreifend
Flächendeckende zugehende fallspezifische Beratung

Familien mit Kindern mit Behinderung und chronischen Erkrankungen müssen mit einer Vielzahl von verschiedenen Behörden und Ämtern interagieren. Ihre Ansprüche werden in bis zu fünf Sozialgesetzbüchern geregelt. Während Eltern von Kindern ohne Behinderung aus einer Vielzahl von Ratgebern, Elternkursen und nicht zuletzt von den Erfahrungen anderer Eltern profitieren können, sind Eltern von Kindern mit Behinderung und chronischen Erkrankungen oft auf sich allein gestellt und finden keine kompetenten Ansprechpartner für die Frage: Wie geht Leben mit einem Kind mit Behinderung oder chronischer Erkrankung?

Wichtig wäre:
Flächendeckender Ausbau der unabhängigen Pflegestützpunkte mit Erweiterung einer speziell für die Belange von Kindern und Jugendlichen qualifizierten Pflegeberater*in nach §7a SGB XI:

-    Eine zusätzliche Stelle je 400.000 Einwohner (deutschlandweiter Stellenumfang von ca. 200 zusätzlichen Stellen) angedockt an bereits bestehende Pflegestützpunkte
-    Lotsenfunktion in den regionalen Besonderheiten
-    Einbeziehung der Expertise von pflegenden Eltern in Form einer entgeltfinanzierten Peer- Beratung
-    Anpassung der Schulungsinhalte des GKV-Spitzenverbands bei der Weiterbildung zur Pflegeberater*in nach 7a SGB XI Ressort Gesundheit & Pflege

Aufbau und Ausbau der Entlastungs- und Unterstützungsangebote
Ein Kind mit Behinderung oder chronischer Erkrankung braucht Pflege und Betreuung, oftmals 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr, ein Leben lang.
Pflegende Eltern brauchen Entlastung, um der Pflege des Kindes sowie dem System Familie inkl. der Geschwisterkinder weiterhin gerecht zu werden.

Wichtig wäre:

–    ein einheitliches flexibel einsetzbares Entlastungsbudget, das frei, also je nach Famili- ensituation, verwendet werden kann und nicht nach verschiedenen Entlastungs- und Unterstützungsangeboten unterscheidet sowie ein unbürokratischer und niederschwelliger Zugang zu diesen Leistungen
–    ein konsequenter bedarfsgerechter Ausbau an solitären Kurzzeitpflegeplätzen für Kinder und Jugendliche mit pädagogischem Konzept und ein Recht auf einen Kurzzeitpflegeplatz
–    ein konsequenter bedarfsgerechter Ausbau an quartiersnahen, individuellen und verlässlichen Betreuungsangeboten im Rahmen der Tages- und Nachtpflege mit dem Recht auf kurzfristige und niedrigschwellige Inanspruchnahme der Plätze
–    Einbeziehung beeinträchtigter Kinder in das Recht auf Ganztagsbetreuung sowie Feri- enbetreuung von mind. 6 Wochen pro Jahr

Erleichterung der Hilfs- und Heilmittelbewilligung

Immer wieder werden Hilfsmittel, obwohl von erfahrenen Neuropädiatern eines SPZs verordnet, von den Krankenkassen abgelehnt oder die Bewilligung wird unnötig in die Länge gezogen. Oft wird der Medizinische Dienst eingeschaltet, der rein nach Aktenlage entscheidet, ohne das Kind auch nur einmal gesehen zu haben.

Darüber hinaus werden häufig fachfremde Gutachter*innen eingesetzt, die keinerlei Expertise im pädiatrischen Bereich haben und aus diesem Grund nur schwer die besonderen, sehr komplexen Bedarfe der Kinder und Jugendlichen beurteilen können.

Ein Widerspruchs- und/oder Klageverfahren trauen sich viele Eltern nicht zu, nicht selten läuft den Kindern auch die Zeit davon.

Am Ende leiden die Kinder nicht an ihrer Behinderung, sondern an den Folgen nicht passender Hilfsmittelversorgungen und/oder verwehrter Teilhabe.
Wichtig wäre:

-    Eine direkte Bewilligung von Hilfs- und Heilmitteln seitens der Krankenkassen ohne Prüfung durch den Medizinischen Dienst, sofern ein SPZ die Verordnung ausgestellt hat

-    Das wäre eine spürbare, für Eltern weit reichende Erleichterung im Leben mit einem beeinträchtigten Kind.

-    Das wäre für pflegende Eltern ein Signal aus der Politik, dass sich nach jahrelangen Beschwerden und Petitionen eine Verbesserung zeigt.

-    eine längere Geltungsdauer der Rezepte für Heilmittel

Beide Punkte bringen einen spürbaren Bürokratieabbau auf beiden Seiten, also auch auf Seite der Kostenträger.


Ressort Arbeit & Soziales

In Deutschland leben 198.000 Kinder mit einer anerkannten Schwerbehinderung (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung 259 vom 22.06.2022).

Eltern und sorgeberechtigte Menschen mit Kindern mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen sind in der Rush-Hour des Lebens, also in der Phase der wirtschaftlichen Sicherung. Hat diese Familie ein Kind mit Behinderung oder chronischer Erkrankung zu betreuen, kann oft ein Elternteil nicht mehr wie gewohnt einer geregelten Lohn-Arbeit nachgehen. Allein- oder Getrennterziehenden Elternteilen ist es aufgrund der Behinderung und oftmals hohem Betreuungsbedarf des Kindes oft unmöglich, einer Lohn-Arbeit nachzugehen und so für die eigene Altersvorsorge vorzusorgen. Eltern mit Pflegeverantwortung brauchen pflegesensible Arbeitszeiten und -bedingungen, um Pflege und Beruf wirklich vereinbaren zu können. Dadurch kann der Co-Behinderung pflegender Eltern entgegengewirkt werden, Fachkräftemangel behoben und Altersarmut vorgebeugt werden.

Wichtig wäre:

-    Recht auf mobiles Arbeiten für pflegende Angehörige, wenn die Tätigkeit dies zu- lässt
-    Übertragung der Nachteilsausgleiche eines Schwerbehindertenausweises auf die El- tern/Erziehende (verbesserter Kündigungsschutz, Recht auf Zusatzurlaub, Recht auf Teilzeitarbeit, Recht auf Befreiung von Mehrarbeit).
-    Bei ca. 200.000 Kindern mit anerkannter Schwerbehinderung kann von einem zusätz- lichen anspruchsberechtigten Personenkreis von max. 400.000 Menschen ausgegangen werden, wenn die Nachteilsausgleiche auf beide Elternteile übertragen werden (bei ca. 3 Mio. anspruchsberechtigten Personen von 18-65 Jahren).

Da pflegende Familien sich in völlig individuellen Lebenslagen befinden, sollten folgende Möglichkeiten gegeben sein:

-    Lohnersatzleistung als Wahlmöglichkeit für erwerbstätige pflegende Eltern
-    ein sog. Care-Gehalt für alle pflegenden Eltern, das sich am realen Betreuungs- und Pflegeaufwand orientiert. Diese Leistung würde vor allem Nichterwerbstätige und Selbstständige finanziell unterstützen und absichern.


Fazit

Viele pflegende Eltern leiden aufgrund ständiger Überlastung ihrer Pflegeverantwortung an Erschöpfungszuständen, die häufig im Burn-out münden. Die eigene Gesundheit gerät in den Hintergrund, da man sich ständig aufgrund der oftmals sehr komplexen Beeinträchtigungen mit vielen verschiedenen medizinischen Fachrichtungen, auseinandersetzen muss.

Nicht selten haben Eltern mit pflegebedürftigen Kindern auch noch Eltern im fortgeschrittenen Alter, die entweder schon pflegebedürftig sind oder es werden. Im schlimmsten Fall leistet diese Familie Sandwichpflege, ist also gleichzeitig für das pflegebedürftige Kind und die pflegebedürftigen Eltern pflegeverantwortlich.

Der demographische Wandel führt dazu, dass immer mehr zu Pflegende von immer weniger Pflegekräften versorgt werden können. Ca. 80% der zu Pflegenden werden zu Hause gepflegt. Das macht die private Pflege zum größten Dienstleister unter den Pflegediensten. Wenn sich nicht bald Dinge maßgeblich verbessern, droht ein Kollaps dieses Pflegesystems. Früher oder später, also wenn die geburtenstarken Jahrgänge pflegebedürftig werden, wird das Thema Pflege sowie der Pflegenotstand fast alle Bundesbürger in irgendeiner Weise betreffen, weshalb es einen Wandel hin zu einer pflegesensiblen Gesellschaft braucht!


Über wir pflegen e.V.
Der Bundesverband wir pflegen e.V. ist eine Interessenvertretung und Selbsthilfeorganisation für pflegende Angehörige. Der 2008 gegründete Verein setzt sich für nachhaltige Verbesserungen in der häuslichen Pflege ein. Über den Austausch mit anderen Pflegenden ermöglichen wir Angehö- rigen mehr Anerkennung, Kontakt und Informationen sowie eine Stimme in Politik und Gesellschaft – als gleichberechtigte Partner in der Pflege.

 

Auch das Kindernetzwerk war interessiert, wie die Lebensqualität von Eltern beeinträchtigter Kinder aussieht. Um dies zu erfahren, wurden 33 leitfadengestützte Interviews mit betroffenen Eltern geführt, sowie der Kidscreen-52-Fragebogen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren, eingesetzt. Dabei kam es zu erwarteten, aber auch zu überraschenden Ergebnissen.